mit Pavlos Wacker, Vorsitzender einer großen Jugendorganisation (Jusos BW)
Die Zusammenfassung dient als Orientierung über das gesprochene Wort im Podcast, ersetzt ihn aber nicht und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und die schriftlichen Antworten sind nicht im Duktus meiner Gäste gehalten. Es zählt nur das gesprochene Wort im Podcast.
Was ist Kinder- und Jugendbeteiligung? 0:45
Man versteht dabei alle Prozesse bei denen Kinder und Jugendliche beteiligt werden.
Wenn der Mindestlohn eingeführt wird, müssen dann Kinder und Jugendliche beteiligt werden? 0:59
Nein, nicht direkt. Die Kinder- und Jugendbeteiligung ist ein weitgefasster Begriff. Typischerweise bei allen Prozessen/Dingen die deren Belange berühren. (Anmerkung von achdeswegen: Mindestlohn und deren Ausgestaltung ist eher weniger ein Thema der Kinder- und Jugendbeteiligung)
Ist Kinder- und Jugendbeteiligung verpflichtend? Und wer muss das machen? 1:14
Unterschiedlich. Es gibt Bundesländer in denen Kommunen verpflichtet werden, in allen Belangen die Interessen der Kinder und Jugendliche berühren Kinder- und Jugendbeteiligung durchzuführen. Es gibt dazu keine bundeseinheitliche Gesetzgebung. Jugendliche, Kinder, Lehrer*innen und andere können ja aber auch proaktiv werden und diese Beteiligung einfordern.
Ist Kinder- und Jugendbeteiligung auch für private Bauinvestoren oder Vergleichbare verpflichtend? 2:05
Nein, die Pflicht gilt nur für die Kommunen. Wie sie das dann umsetzen, ist in der Hand der Kommunen. Da wurde absichtlich eine große Freiheit eingebaut, damit die Lösung maßgeschneidert für die Kommune gemacht werden kann.
Warum macht man Kinder- und Jugendbeteiligung? 2:30
Kinder und Jugendliche werden ja nicht als Demokraten geboren, sondern müssen politische Prozesse ja auch erfahren und erlernen. Wenn wir mündige Bürger haben wollen, tut Kinder- und Jugendbeteiligung gut.
Wenn der Bund eine Autobahn baut, müssen dann Kinder und Jugendliche beteiligt werden? Oder ist es eine reine Kommunalaufgabe? 2:50
In Baden-Württemberg ist nur die Kommune verpflichtet. Es gibt Vereine, Organisationen die das aus ihrem Selbstverständnis heraus freiwillig machen. Und weil man das Wissen der jungen Menschen für die eigene Organisation nutzen will. Für das Beispiel der Autobahn: Da kenne ich kein Beteiligungsverfahren, wo Kinder und Jugendliche beteiligt wurden.
Beispiele für Kinder- und Jugendbeteiligung? 3:35
Wenn eine Kommune anfangen will, dann kann sie das anregen, dass alle Kids an allen Schulen ein Mal einen Vormittag frei bekommen und sich in der Stadthalle treffen. Dort können sie sich strukturiert mit beispielsweise dem Konzept des „World Cafes“ zu ihren Themen äußern. Dort können sie sagen, was sie beschäftigt: „Wir haben keinen Bolzplatz!“, „Wir haben keine coolen Läden zum Shoppen!“. Dann gehört es eben auch dazu, dass ihnen beispielsweise die Hauptamtleitung sagt: „Naja, einen H&M bekommen wir nicht einfach hier her, so einfach geht das nicht!“.
Es gibt aber auch weniger „lose“ Formate, mehr institutionalisierte Formate wie der Jugendgemeinderat. Mit Wahlen, einem Gremium.
Ist Kinder- und Jugendbeteiligung nicht nur eine Alibiveranstaltung? 4:45
Vereinzelt gibt es das sicherlich auch, aber die meisten Gemeinden meinen es sehr ernst. Gerade für Kommunen im ländlichen Raum, da dort ja auch die Abwanderung, gerade der jungen Menschen, stattfindet und da ist es super wichtig ein Stimmungsbild zu bekommen.
Geht es um Ideenfindung oder um was geht es? 5:45
Es geht durchaus auch um ein Stimmungsbild und Ideen. Aus diesen Beteiligungsformaten entwickeln sich oft weitere Formen, wie Arbeitsgruppen, interkommunale Formate oder oder, die sich oft über mehrere Jahre hinweg ziehen.
Ein Beispiel dafür: Im Zweitälerland gab es eine Jugendbeteiligung die Mobilität auf dem Land zu verändern und daraus ist jetzt eine Mobilitäts-App entstanden. So ist aus dem Brainstorming ein Projekt geworden, welches interkommunal wurde, sich ausdauernd traf und ein Ergebnis brachte.
Entstehen da nicht nur riesige Wunschlisten, Luftschlösser? 6:42
Ja, das passiert manchmal schon, aber das kann man steuern. Das richtige Format hilft dabei, dass die Jugendlichen sich genaue Gedanken machen und konstruktiv und realistisch arbeiten. Da kommen meist sehr gute Vorschläge, selten Hirngespinste. Man braucht ein Verfahren, welches am Ende Ergebnisse zu Tage führt, das ist wichtig. Beispielsweise: Wir haben als Kommune dies oder das Problem und wie können wir das lösen?
Müssen Jugendliche mitmachen? Wie bspw Schöffen verpflichtet werden können? 7:20
Nein, verpflichten können wir sie nicht. Aber wir können die Formate attraktiv gestalten – dann kommen sie auch.
Welche jungen Menschen kommen dann? Nur Akademiker-Kinder? 7:50
Es kommt stark auf das Verfahren an. Wenn ich Mal einen Vormittag für alle Schulen öffne und die Kids in die Stadthalle bringe, dann habe ich die ganze Bandbreite da. Bei anderen Formaten sind es dann mehr die Kids, die sowieso schon alle Bildung, Beteiligung und Möglichkeiten haben. Dann muss man schauen, dass man in die Jugendhäuser oder ähnliches geht und dort gezielt anwirbt. Die Erfahrung ist, dass diese Jugendliche oft noch Freunde mitnehmen.
Ist die Form/Art und Weise der Kinder- und Jugendbeteiligung gesetzlich vorgeschrieben? Braucht es externe Hilfe? 9:25
Nein (bezogen auf Baden-Württemberg). Lediglich vorgeschrieben ist, dass sie stattfinden muss.
§ 41a
Beteiligung von Kindern und Jugendlichen
(1) Die Gemeinde soll Kinder und muss Jugendliche bei Planungen und Vorhaben, die ihre Interessen berühren, in angemessener Weise beteiligen. Dafür sind von der Gemeinde geeignete Beteiligungsverfahren zu entwickeln. [….]
Am Anfang steht eine Bestandsaufnahme und daraus entwickelt sich dann die weitere Form der Jugendbeteiligung. Vielleicht gibt es diese schon und sie kann weiterentwickelt werden. Beispielsweise durch die Vereine vor Ort. Es gibt häufig organisierte Gremien vor Ort, wo die jungen Leute zusammenarbeiten. Da kann man an Bestehendes anknüpfen.
Externe Hilfe braucht es nicht zwingend. Aber helfen oft als Anschubhilfe.
Was kostet Kinder- und Jugendbeteiligung? 11:02 + 20:47
Am Geld muss es nicht scheitern, denn es gibt eine Menge an Fördertöpfen und Gelder für Demokratieerziehung und Jugendbeteiligung von Land, Bund und anderen Organisationen. Auch Unternehmen sponsoren immer wieder gerne. Und die Budgets sind meist sowieso sehr überschaubar. Es gibt aber auch Gemeinden die ein Budget zur freien Verfügung für Kinder- und Jugendbeteiligung stellen. Sodass hier ein Spielraum entsteht.
Wie viel Zeit nimmt die Kinder- und Jugendbeteiligung in Anspruch? 11:30
Je nach dem, wie man den Prozess gestalten möchte. Und ja, wenn man es ernst nimmt, dann ist das zeitaufwändig. Vorbereitung, Nachbereitung, etc. Man muss Strukturen schaffen, ggfs Wahlen abhalten und und und. Die Mühle lohnt sich in der Regel.
Zieht Bürger*innenbeteiligung nicht alle Projekte in die Länge? 11:50
Das Beteiligen von Menschen kann sogar die Kommunen entlasten. Im Vorfeld an den Projekten und den Herausforderungen zu arbeiten, kann viel Arbeit in der Zukunft abnehmen/verhindern. Dazu braucht es gute Prozesse. Man kann auch Gruppen zusammenbringen und Synergien nutzen. Bspw Jugendliche und ältere Generationen sitzen gemeinsam an einem Projekt. So beugt man auch Generationenkonflikten vor.
Was gibt es für Anlässe für Kinder und Jugendbeteiligung? Ist es immer projektbezogen? 15:25
Es muss nicht projektbezogen sein. Wir stellen gerne die Frage: Wie gerne liebst Du in der Kommune? Und die meisten Menschen leben gerne dort, wo sie leben. Solche Fragen zur Bestandsaufnahme sind sehr wichtig. Aus solchen Veranstaltungen ergeben sich andere Projekte ggfs.
Was sind Stadtteildetektive? 16:40
Die Kinder und Jugendlichen identifizieren die Schwierigkeiten in ihrem Wohnort. Durch bspw eine Ortsbegehung und benennen dann Gefahrenstellen oder anderes. Das kann man bereits mit Erstklässern machen. Da gibt es dann Rückmeldungen wie: „Bei uns gibt es keine abgesenkten Bordsteine“. Solche Erkenntnisse sind wichtig, gerade auch für die Barrierefreiheit (Rollstuhlfahrer, Kinderwagen, etc).
Gibt es schulische Formate oder institutionalisierte Beteiligung? 17:45
Jugendgemeinderäte funktionieren wie die bereits bekannten Gemeinderäte. Geschäftsordnung, regelmäßige Treffen und und. Das ist sehr institutionalisiert. Der große Vorteil ist, dass sehr zielstrebig gearbeitet werden kann und dass Ergebnisse bei rumkommen. Der Nachteil ist, dass die typischen Mitglieder des Jugendgemeinderates die bereits ohnehin politikaffinen Menschen sind und die große Bandbreite an Lebensrealitäten nicht abgebildet wird. Es geht aber ja auch um inklusive Jugendbeteiligung. Da steht ein Jugendgemeinderat vor Herausforderungen.
In Schulen gibt es Dinge wie den Achterrat oder andere Formate. Jugendbeteiligung geht auch über/in der Schule.
Lange politische Prozesse, die die Jugend eines Menschen überdauern – was nun? 19:10
Das ist ja relativ häufig so, dass politische Prozesse gefühlte Ewigkeiten dauern und man für sich meist Zwischenergebnisse formulieren muss. Die Zwischenschritte wie Anhörungen im Gemeinderat oder Zielformulierungen sind realistische Schritte. Und man kann auch kleinere Projekte angehen, die auch innerhalb kürzerer Zeit realisierbar sind.
Wo siehst Du die Kinder- und Jugendbeteiligung in paar Jahren? 21:45
Es hat sich bereits in den letzten Jahren sehr viel getan. Unsere Generation will mitmischen und meldet sich zu Wort. Kinder- und Jugendarbeit ist leider immer chronisch unterfinanziert. Das Wahlalter machen wir an irgendwelchen Zahlen fest, die für mich als Begründung bisher nicht ganz schlüssig sind. Es gibt also noch einiges zu tun. Aber es läuft auch bereits sehr viel. Wo es hingehen wird, schwierig zu sagen. Mein Wunsch wäre ein Rahmen, der Kinder- und Jugendbeteiligung bundesweit verbindlich macht. Und das Demokratiebildung auch außerhalb von Schulen Priorität bekommt (und btw: sie funktioniert oft außerhalb der Schule sogar besser).
Kannst Du Dir Jugendbeteiligung auch auf Bundes-, Landes-, Europaebene vorstellen? 23:00
Denkbar ist es, es gibt es auch hier und da. Z.B. ein Nachhaltigkeitsbeirat der Landesregierung BW im Umweltministerium.
Je „höher“ die Ebene, in die ich vordringe, desto schwieriger die Auswahlprozesse (der Jugendlichen) und desto schwieriger wird die Repräsentativität. Es sind dann wieder die Jugendlichen, die bereits politisiert sind.
Pavlos, Danke für das Gespräch. Bei weiteren Fragen: Schreibt uns: fionn@achdeswegen.de
Das Gespräch wurde 2. Februar 2020 aufgenommen.